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CH. TISSIER 8. DAN

„Es ist keine Improvisation, es ist vielmehr eine Reflexion.“

Trainieren lernen: Ein Interview mit Christian Tissier Shihan

Im Dezember 2010 antwortete Christian Tisser in Buenos Aires auf Fragen von Mario Lorenzo (Aikikai Argentina) zu unterschiedlichen Themen rund um die Kampfkunst Aikido. Insbesondere sprach er über die Zukunft des Aikido, über Yamaguchi Senseis (1924-1996) Unterrichtsstil und auch über das ominöse ‘Ki’. Christian Tissier thematisierte außerdem den Zusammenhang zwischen dem Erlernen von Aikidotechniken und dem Entwickeln flüssiger Bewegungsabläufe. Jorge Rojo (Aikikai Chile) dolmetschte. Das Interview wurde von Daniel Fisher redigiert und wird mit Tissiers Erlaubnis vom Aikido Dojo am Südstern (Berlin) veröffentlicht.*

Mario Lorenzo: Wie, glauben Sie, wird sich Aikido in der Zukunft entwickeln?

Tissier Sensei: Es ist schwierig, mir vorzustellen, dass es in den nächsten 10 bis 20 Jahren größere Veränderungen geben wird. Der Grund ist, dass die gegenwärtig aktiven Aikidokas natürlich auch weiterhin trainieren werden. Nur werden sie in Zukunft eben älter sein. Neue Entwicklungen hängen davon ab, ob wir junge Leute für das Aikido gewinnen können. Auch unsere Fähigkeit, junge Menschen für Aikido zu begeistern, wird die Zukunft des Aikido mitbestimmen.

Als ich mit Aikido begann, hatten wir eine völlig andere Situation. Heutzutage gibt es für junge Leute viel mehr Möglichkeiten. Damals hatte die fernöstliche Kultur für uns etwas Magisches. Es gab jedoch nur Judo, Karate und Aikido. Wir müssen mehr Menschen im Alter zwischen 18 und 30 mit einbeziehen. Sonst wird das Durchschnittsalter der Teilnehmer an Lehrgängen zwischen 40 und 45 liegen. Das Alter der aktiven Sportler wird das Aikido in seiner Form beeinflussen.

Eine weitere Unsicherheit stellt dar, wie Aikido in so bevölkerungsstarken Ländern wie China oder Indien angenommen wird. Dort leben Milliarden von Menschen. Aber für welche Sportarten interessieren sich diese Menschen? In China ist Shaolin Kung-Fu sehr verbreitet. In Indien ist es Yoga und verwandte Formen. Aber wie viele Menschen werden sich dort tatsächlich für Aikido interessieren? Es könnten 100.000 oder 200.000 sein oder womöglich sogar niemand. Was in den nächsten 20 Jahren geschehen wird, wissen wir nicht. In Frankreich gibt es 70.000 Aikidokas. Wenn es in China 300.000 wären, wie würde dies das Aikido beeinflussen? Heutzutage kommt ein Trainer auf zwanzig Schüler. Wie sähen die Unterrichtsmethoden aus, wenn ein Trainer auf 1.000 Schüler käme?

In welche Richtung wird sich Aikido Ihrer Einschätzung nach entwickeln? Wird der Fokus eher auf Kondition, Schnelligkeit oder Technik liegen?

Ch. Tissier Shihan Eine Stärke des Aikido ist seine Vielschichtigkeit. Es gibt Menschen, die Aikido machen, weil es körperlich nicht so anstrengend ist. Viele von ihnen sind nicht in der Lage, eine andere Sportart zu betreiben. Andere wiederum sind körperliche Belastungen gewohnt und suchen und finden genau dies auch im Aikido. Ich bin fast 60 und fühle mich wie ein Sportler. Ich behaupte nicht, dass die Art, wie ich Aikido betreibe, besonders anstrengend wäre, aber ich spüre schon, dass ich mein ganzes bisheriges Leben Sport getrieben habe. Unser Augenmerk sollte sich auch weiterhin auf physische Elemente als Basis des Trainings richten.

Vor kurzem fuhr ich mit dem Doshu nach Amsterdam, wir sind im selben Alter. Das von ihm dort gezeigte Aikido war komplex, schnell und präzise und er demonstrierte es wie ein echter Athlet.

In Südamerika fällt auf, dass viele, die im Training das Ki  überbetonen, in technischer Hinsicht nicht ernst zu nehmen sind. Stellen Sie das auch in anderen Ländern fest? Und was halten Sie von Watanabe Senseis »No touch« Aikido?

Das sind zwei verschiedene Dinge. Es gibt Menschen, die von Ki sprechen, andere hingegen praktizieren ein Aikido wie Watanabe Sensei. Er entwickelte etwas, wofür er sich besonders interessiert: Es ist keine Arbeit mit Ki, sondern eine des Vorwegnehmens, des Spürens, unabhängig davon, ob es einem gefällt oder nicht und ob es funktioniert oder nicht. Es funktioniert, solange es eine Absprache gibt. Aus der Perspektive der Kampfkunst funktioniert es hingegen nicht. Als ich in Japan war, habe ich viel mit ihm trainiert. Früher war er nicht so. Er verfügt ansich über solide Grundlagen, aber er wollte etwas anderes entwickeln. Ich glaube, wäre ich Vorsitzender einer Prüfungskommission, würde ich nicht akzeptieren, was er macht.

Nun, viele Menschen in aller Welt, die von Ki sprechen und stetig darauf Bezug nehmen, versuchen lediglich von ihrem Mangel an technischen Fähigkeiten abzulenken. Ki ist in uns allen, alles ist Ki [er öffnet seine Arme], das Problem aber mit Ki ist sein Fluss. Wie aber bekommt man das Ki zum Fließen? Es fließt, wenn es keine Blockaden gibt. Wenn jemand eine Aikidotechnik nicht sauber ausführt, dann wird sein Körper nicht frei von Blockaden sein. Ziel des technischen Aspekts dieses Sports ist es, jeden Teil des Körpers von möglichen Blockaden zu befreien. Wer eine Übung mit steifen Schultern ausführt, wird einen wirklichen Ki-Fluss nicht erleben.

Als der Lehrer, der Aikido weltweit mehr als alle anderen zu verbreiten versteht, wie ist Ihr Verhältnis zu den japanischen Lehrern?

Unser Verhältnis ist sehr gut. Tatsächlich bin ich ein Produkt des Aikikai; ich habe jung damit begonnen und habe entsprechend an mir gearbeitet. Ich glaube, dass sie mich als einen von ihnen betrachten, als einen Botschafter, aber auch als einen Fremden.

In den Gesprächen mit dem vorherigen Doshu und mit dem gegenwärtigen ist deutlich geworden, dass ich für sie ein Fremder aus dem Westen bin, der die Prinzipien kennt und diese auch versteht. Ich gehöre zum Bild des Aikikai. Ich glaube, dies ist so, weil ich den Unterweisungen, die ich erhalten habe, treu blieb. Obwohl Aikido eine persönliche Seite hat und jeder sich individuell entwickelt, fühle ich mich als einen Teil derselben Familie. Meine Generation hat Aikikai bisher am meisten geprägt; zu dieser Generation gehören Lehrer wie Yasuno, Yokota, Osawa (der jünger ist), Miyamoto, Shibata und Endo (der etwas älter ist). Zur Generation vor meiner gehören: Tamura Sensei, Yamada Sensei, Tada Sensei; und es gibt eine jüngere Generation, die ich persönlich nicht kenne.

In Ihren Seminaren legen sie Wert auf »Punkte« und »Achsen«. Sind dies Begriffe, die sich aus der Art ergeben, wie sich Ihr persönliches Aikido entwickelt hat? Wie hat Yamaguchi Sensei Ihre Technik beeinflusst?

Meine Methode, zu unterrichten, ist meine eigene; sie folgt aus meiner Analyse dessen, was ich insbesondere von Yamaguchi Sensei, der für mich die reine Lehre repräsentiert, gelernt habe. Unsere westliche Ausdrucksform weicht von der japanischen ab. Oft wissen Japaner nicht, wie sie solcherlei Dinge erklären sollen. Ihre Erklärungen erscheinen oft seltsam. Manche von ihnen sind pädagogisch gesehen gut, jedoch basiert ihre Methode nicht so sehr auf verbaler Vermittlung oder auf einer spontanen und situationsbedingten Analyse. Und wenn sie gefragt werden, warum sie etwas auf einer gewissen Art und Weise tun, sagen sie nur, es sei eben japanische Tradition.

Was ich an Yamaguchi Sensei wunderbar fand, ist, dass er immer Antworten auf alle Fragen hatte. Zu jedem Thema im Bereich des Aikido hatte er sehr intelligente Gedanken. Vieles davon hatte ich damals schon gehört, aber nicht verinnerlichen können. Selbst heutzutage, wenn ich mir ein Video anschaue, sehe ich Dinge, die ich früher nicht sehen konnte; es fehlte mir das Verständnis dafür. Es lag einfach daran, dass Yamaguchi Sensei derart fortgeschritten war. Besucher seiner Lehrgänge nahmen alles intuitiv auf. Meine Generation wurde von ihm stark geprägt.

Was erinnern Sie aus der Zeit mit Yamaguchi Sensei? Welche Gefühle verbinden Sie mit ihm?

Ich verbinde immer noch viel mit ihm; wenn ich mir ein Video anschaue oder jemanden dabei beobachte, wie er sich auf bestimmte Weise bewegt, weiß ich genau, was da passiert. Seine Bewegungen waren bereits von ihrer Anlage her schnell. Er war von Natur aus kein kräftiger Mann. Yamaguchi Sensei wog 65 kg und wann immer er mit einer Bewegung begann, spürte man keinen Widerstand, alles war sehr präzise und gleichzeitig hatten seine Bewegungsabläufe eine destabilisierende Wirkung.

Er war jemand, der ab der ersten Berührung das Körperzentrum des anderen kontrollierte, er machte flüssige Bewegungen und wenn er aktiv wurde, war es wie eine Explosion, eine zertrümmernde Kraft; es war wie ein Haus, das zusammenbricht, er hat uns förmlich einstürzen lassen. Nie hatte ich das Gefühl, in grober Weise gestoßen oder gezogen zu werden; vielmehr war es ein schönes Gefühl, klar, sehr technisch.

Ich habe sehr individuelle Erinnerungen an die anderen Lehrer, mit denen ich trainiert habe, aber stets war mit ihnen eine Art Kampf spürbar. Immer wenn ich eine Bewegung mit meinem Arm erzwang, musste ich mich stärker vor dem Schmerz schützen und, immer wenn ich mich noch mehr schützte, setzte ich auch mehr Kraft ein. Dabei lernt man auch, aber es war nicht dieses Gefühl, das ich mit Meister Yamaguchi hatte.

Fällt Ihnen sonst noch etwas zur Aikido-Pädagogik ein?

Es lässt sich mit Menschen, die Musik oder Tanz aufführen, vergleichen. Es gibt Menschen, die in diesen Künsten sehr begabt sind, aber wenn sie darin wirklich gut werden wollen, dann müssen sie sehr an der jeweiligen Technik dieser Künste arbeiten. Denn es ist keine Improvisation, es ist vielmehr eine Reflexion.

Beim professionellen Ballett, zum Beispiel, entscheidet nicht der Tänzer darüber, wie er sich bewegt; dies wird durch die Choreografie bestimmt, die der Tänzer umsetzt. Er macht nicht nur das, was ihm gefällt. Er lernt die Technik und dahinter verbirgt sich eine ideale Form.

Es gibt Menschen, die im Bezug auf Aikido sehr begabt sind, aber das reicht nicht aus. Man muss üben, analysieren und reflektieren. Wenn man das tut, stellen sich unterschiedliche Fragen: „Ist eine Bewegung eine schlüssige Geste stringent oder ist sie irgendwie ›parasitär‹, also von kleinen Fehlern beeinträchtigt?“ „Ist eine Bewegung übertrieben oder ist sie auf das Wesentliche reduziert?“ „Wirkt ein Bewegungsablauf ästhetisch oder sogar lebendig?“

Ich kenne viele, die Aikido 20 oder 30 Jahre trainiert haben und dann begannen, sich zu langweilen. Gelänge es, zwei oder drei technische Details herauszuarbeiten, ließe sich die Begeisterung wieder spürbar machen. Manchmal ist es notwendig, das Training umzugestalten. Unsere Rolle als Lehrer ist es, die Begeisterung der Leute zu erhalten. Dies gilt auch für uns selbst.

Wenn es im Aikido heißt: »Ikkyo Issho« (»Übe Ikkyo Dein Leben lang«), fragt man sich: „Aber welchen Ikkyo?“ Denselben, den wir schon früher geübt haben? Ikkyo muss sich entwickeln. Ikkyo ist notwendig, um unser Verständnis und unsere Sensibilität zu erweitern. Wir dürfen nicht sagen: „Ikkyo sieht so aus und nichts darf sich daran ändern.“

Auf Ihrem Niveau, bei der Auseinandersetzung mit Aikido, haben Sie da manchmal Zweifel an der Technik?

Diese Art von Zweifeln kenne ich nicht. Ich komme darauf zurück, was ich schon zuvor gesagt habe. Beim Training passiert es manchmal, dass uns etwas gelingt, wovon wir bis dahin gar nicht wussten, dass wir es können. Wir entdecken plötzlich einen effizienteren Weg, eine Technik auszuführen. Wenn wir also ein bisschen daran arbeiten, entwickeln wir etwas, das ein klein wenig vom bisherigen abweicht. Aber es ist nicht etwa so, dass wir eines Morgens aufwachen und etwas völlig Neues entdecken.

Zweifel treiben uns an; Zweifel gehören zum Budo. Denn, je besser wir in etwas werden – dies gilt ganz besonders in der Kampfkunst – desto mehr erkennen wir, wie unzureichend wir darin eigentlich sind. Wir neigen aber dazu, uns dieser Erkenntnis nicht zu stellen und tun es nur, wenn es nicht anders geht. Zweifeln hilft uns aber auch, uns zu schützen. Nur ein Idiot geht in eine Kneipe und zettelt eine Schlägerei an. Wer etwas von den Kampfkünsten versteht, wird angesichts der Schwächen solcher Künste daran nur zweifeln können. Er wird erkennen, worum es wirklich geht.

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